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Nein zu "und/oder"!


Einführung

Vor 1985 war der Ausdruck "und/oder" in Deutschland unbekannt. Kennern des US-Rechts war geläufig, daß jenseits des großen Teichs "and/or"  im Schwange war. Man hielt das für eine amerikanische Besonderheit, resultierend aus gewissen Eigenarten der dortigen Kultur. Obwohl es in dem Jahrhundert vor 1985 nicht weniger Anlaß gab, "und/oder" zu benutzen, als heute, benutzte es niemand. Man wußte das Gewollte anders auszudrücken. Die Zeiten scheinen vorbei. Zunächst erschien "und/oder" in Software-Lizenzverträgen, dann in Unterlassungserklärungen und -verfügungen, und mittlerweile ist es überall: in einer Leitsatz-Entscheidung des BGH zum Leasing-Recht (VIII ZR 277/99 vom 14.02.2001), in einer arbeitsrechtlichen Entscheidung zum Internet-Surfen am Arbeitsplatz (ArbG Wesel, 5 Ca 4021/00, 21.03.2001, NJW 01, S. 2490), im "Muster des Antrags auf Genehmigung des Inverkehrbringens und/oder der Einfuhr nicht zugelassener Pflanzenschutzmittel" der Biologischen Bundesanstalt für Land- und Forstwirtschaft, Sitz Braunschweig.

"Und/oder" ist nicht nur überflüssig, es ist unklar und daher schädlich. Außerdem vergiftet es die Atmosphäre zwischen den Juristen einerseits, Programmierern, Mathematiker und anderen logisch Denkenden andererseits.

Sicht des Programmierers

"Und" und "oder" sind in Logik und Mathematik binäre Operatoren, so wie "mal" und "plus". Es sind Symbole einer Operation, die genau zwei Operanden verknüpft - daher binär. Die Operanden schreibt man links und rechts vom Operator, Beispiel "2 + 3". Die Operanden "2" und "3" stehen links und rechts vom Operator, dem plus. Weiteres Beispiel: "a oder b". Die Operanden "a" und "b" stehen beiderseits vom Operator, dem "oder". "Und" und "oder" brauchen als Operanden Aussagen, oder Wahrheitswerte, die nur "wahr" oder "falsch" sein können. Die Verknüpfung von beiden liefert als Ergebnis ebenfalls "wahr" oder "falsch". "Oder" ist so definiert: wenn mindestens einer der Operanden wahr ist, ist das Ergebnis wahr. Beispiel: "Ich heiße Kuhlmann, oder ich heiße Coolman" ist wahr, weil mindestens eine der verknüpften Aussagen wahr ist. "Und" ist so definiert: wenn alle mit "und" verknüpften Aussagen allesamt wahr sind, ist das Ergebnis wahr. "Ich heiße Kuhlmann, und ich heiße Coolman" ist also falsch, weil nur einer der beiden Operanden wahr ist. Jetzt können wir die Frage beantworten, was "und/oder" in Mathematik und Logik bedeutet. Wenn man versucht, einem Computer per Programm eine Anweisung zu erteilen mit "und/oder", verweigert er die Arbeit und antwortet: "Fehler: Ungültiger Operator". Er hat recht. Wenn jemand zwei binäre Operatoren hintereinander schreibt, Beispiel "zwei plus mal drei", ist das eine ungültige Operation, weil einer der beiden Operanden von "plus" und "mal" jeweils der andere Operator ist, das ist unzulässig. Genauso sinnlos, wie "2 +/* 3 ", ist in der Mathematik und Logik "A und/oder B". In den Ohren des logisch geschulten Menschen klingt das Bellen eines Hundes bedeutend schöner als "A und/oder B"! Es klingt für logisch geschulte Menschen so, wie es für Juristen klingt, wenn einer Besitz und Eigentum durcheinander wirft. Ich kenne beide Gefühle. Schon die geschuldete Höflichkeit und Rücksichtnahme gegenüber allen Informatikerinnen und Mathematikerinnen, und ihren Kollegen, gebietet zwingend den Verzicht der Juristen auf ihr gräßliches "und/oder".

Nun

die juristische Sicht der Dinge.

Das BGB, Musterbeispiel juristischer logik, enthält eine Vielzahl von logischen Verknüpfungen, an keiner Stelle enthält es "und/oder". Auch im code civil ist man ohne ein "et/ou" ausgekommen. Im StGB: Wer dies oder das oder jebnes  tut, wird soundso bestraft. Überhaupt gibt es kein einziges Gesetz mit "und/oder". Das beweist: Es geht auch ohne. Aber wie?

Denken wir uns folgenden Fall, den Strafrichterin S. zu entscheiden hat. Jemand ist angeklagt wegen Computersabotage gemäß § 303 b Abs 1 Nr. 2 StGB. Der Täter hat einer Behörde eine Diskette mit wichtigen Daten gestohlen und diese verändert, dann gelöscht, dann die Diskette magnetisiert, verbrannt und in den Müll geworfen, und dadurch die Verarbeitung von Meldedaten unmöglich gemacht. § 303 b StGB lautet an der entscheidenden Stelle: "wer eine Datenverarbeitung einer Behörde ... dadurch stört, daß er .. einen Datenträger zerstört, beschädigt, unbrauchbar macht oder verändert, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft." Der Verbrecher läßt nun zu seiner Verteidigung vorbringen: der Angeklagte hat die Diskette zerstört und beschädigt und unbrauchbar gemacht und verändert. Im Gesetz steht nur "oder" und nicht "und/oder". Keine Strafe ohne Gesetz. Ich plädiere auf Freispruch meines Mandanten. Wie wird  S. entscheiden? Wird sie freisprechen - der Gesetzgeber hätte schreiben müssen "... zerstört und/oder beschädigt und/oder unbrauchbar macht und/oder verändert, " wenn er auch die hätte bestrafen wollen, die zwei oder mehr destruktive Dinge mit den Daten tun? Sicher nicht. Wenn der Gesetzgeber im Strafgesetzbuch meinte "oder" - wer dies oder das oder jenes tut, wird soundso bestraft - dann schrieb er "oder". Wenn der Gesetzgeber "und" meinte - wer dieses und das und jenes tut, wird bestraft, dann schrieb er "und". Im letzteren Fall wird man bestraft, nachdem man alles getan hat, bei "oder" auch, aber auch, wenn man nur eins getan hat.

Daraus folgt

Regel 1:

Wenn an mehrere Tatsachen eine Rechtsfolge angeknüpft wird, in der Form, daß eine einzige der Tatsachen ausreicht, um die Rechtsfolge auszulösen, (so daß logischerweise auch mehrere der Tatsachen die Rechtsfolge auslösen können), dann setzt man ein "oder", wenn alle Bedingungen erfüllt sein müssen, um eine Rechtsfolge oder einen Anspruch auszulösen, verbindet man sie mit "und". Auf der Tatbestands-Seite also genau wie in der Logik und Mathematik.

Nun zu Regel 2.

Viele Juristen würden heute im BGB in § 645 Absatz 1 Satz 1 statt zweiter Oder, eines Kommas und eines Unds vier mal "und/oder" setzen, und herauskommen würde folgender § 645 Abs. 1 Satz 1 BGB:

Ist das Werk vor der Abnahme infolge eines Mangels des vom Besteller gelieferten Stoffes und/oder infolge einer von dem Besteller für die Ausführung erteilten Anweisung untergegangen und/oder verschlechtert worden und/oder unausführbar geworden, ohne daß ein Umstand mitgewirkt hat, den der Unternehmer zu vertreten hat, so kann der Unternehmer einen der geleisteten Arbeit entsprechenden Teil der Vergütung und/oder Ersatz der in der Vergütung nicht inbegriffenen Auslagen verlangen.

Klingt das gut? Richtigerweise lautet § 645 Absatz 1 Satz 1 BGB so:

Ist das Werk vor der Abnahme infolge eines Mangels des vom Besteller gelieferten Stoffes oder infolge einer von dem Besteller für die Ausführung erteilten Anweisung untergegangen, verschlechtert oder unausführbar geworden, ohne daß ein Umstand mitgewirkt hat, den der Unternehmer zu vertreten hat, so kann der Unternehmer einen der geleisteten Arbeit entsprechenden Teil der Vergütung und Ersatz der in der Vergütung nicht inbegriffenen Auslagen verlangen.

Wieso und?

Der erste Teil ist Regel 1: Mehrere Tatsachen werden geschildert, die die Rechtsfolgen auslösen können, einzeln oder zusammen, verbunden mit "oder". Das hatten wir schon. Unternehmer hat Ansprüche, wenn Besteller schlechten Stoff lieferte, falsche Anweisungen erteilte, oder beides tat. Aber was bedeutet im Rechtsfolgenteil: "kann der Unternehmer einen Teil der Vergütung - UND Ersatz der Auslagen verlangen"? Ist die Klage abzuweisen, wenn der Unternehmer nur den Lohn verlangt, und keine Auslagen - im Gesetz hätte sonst stehen müssen "der Unternehmer kann Lohn und/oder Auslagen verlangen"? Nein. Wenn ein "kann" vorangestellt ist  (man kann a und b verlangen), bedeutet das freie Auswahl - denn man braucht ja gar nichts zu tun. "Der Gläubiger kann a und b verlangen" bedeutet, der Gläubiger kann (nach seiner Wahl, das braucht nicht extra gesagt zu werden) entweder nichts, oder a, oder b, oder a und b verlangen. Wenn es dagegen im Gesetz oder Vertrag heißt: "Der Gläubiger kann a oder b verlangen", heißt das, er kann entweder gar nichts oder a oder b verlangen, aber nicht a und b. Normen, die die Regel 2 am besten demonstrieren, sind einmal § 1 UWG: "Wer im geschäftlichen Verkehr zu Zwecken des Wettbewerbs Handlungen vornimmt, die gegen die guten Sitten verstoßen, kann auf Unterlassung UND Schadenersatz in Anspruch genommen werden." Gemeint ist: der Gläubiger kann Unterlassung, Schadenersatz oder beides verlangen. Zum anderen § 462 BGB: "Wegen eines Mangels, den der Verkäufer einer mangelhaften Sache zu vertretern hat, kann der Käufer Rückgängigmachung des Kaufes (Wandelung) ODER Herabsetzung des Kaufpreises (Minderung) verlangen." "Oder" auf der Rechtsfolgen-Seite heißt: entweder - oder.

Regel 2:

Bei "der Gläubiger kann A und B verlangen" bedeutet das "und" ein logisches "oder". Der Gläubiger kann je nach Wunsch A, oder B, oder A und B verlangen. In "Gläubiger kann A oder B verlangen" bedeutet das "oder" ein logisches "entweder - oder", ein Logiker würde sagen, ein "nicht und". Wenn also Rechte des Gläubigers aufgezählt werden, von denen der Gläubiger nach seiner Wahl entweder einzeln oder gemeinsam Gebrauch machen kann, benutzt man zur Verbindung ein "und". Kann der Gläubiger dagegen nur eine von mehreren Sachen verlangen, zwischen denen er wählen muß, benutzt man "oder".

Diese logische Struktur von § 645 Abs. 1 Satz 1 BGB entspricht exakt der von Unterlassungsverpflichtungen, in denen ständig - leider schon von Gerichten - "und/oder" gesetzt wird. Nämlich: Eine Aufzählung von Tatbestandsvoraussetzungen, von denen eine oder mehrere gegeben sein können, gefolgt von der Aufzählung von Rechtsfolgen, von denen der Gläubiger nach seiner Wahl einzeln oder gleichzeitig Gebrauch machen kann. Deswegen richtigerweise erst "oder" - Regel 1, dann "und" - Regel 2. "Wenn der Unterlassungsschuldner A oder B oder C tut, kann der Gläubiger X und Y und Z verlangen". In der Praxis der Unterlassungsverpflichtungen aber: erst "und/oder", und dann nochmal "und/oder". "Wenn der Schuldner A und/oder B und/oder C tut, kann Gläubiger X und/oder Y und/oder Z verlangen". Mit jedem "und/oder" ist ein logisches "oder" gemeint, auf der Tatbestandsseite ersetzt das "und/oder" ein "oder" der Rechtssprache, auf der Rechtsfolgenseite ersetzt es "und".

Das Risiko

"Und/oder" ist nicht nur Bequemlichkeit, es ist schlechter juristischer Stil. Denn in einem juristischen Text - z.B. in einem Vertrag, der von einem Juristen entworfen wird - muß man davon ausgehen, daß ein Begriff immer mit derselben Bedeutung benutzt wird. Wenn man in einem juristischen Text einmal "und/oder" benutzt, muß man es jedesmal benutzen, wenn ein logisches "oder" gewollt ist. Das heißt aber auch, mit einem anderen Ausdruck, als "und/oder", kann dann kein logisches "oder" mehr gemeint sein. In einem Text voller "und/oder" könnte also mit einem einzelnen "X kann A UND B verlangen" gemeint sein: "X kann nur A und B zusammen verlangen", und in einem "und/oder"-Text könnte mit "wenn dieses oder jenes passiert, kann X Geld verlangen" gemeint sein: "wenn dieses oder jenes passiert, aber nicht, wenn beides passiert, kann X Geld verlangen" - denn sonst hätte man ja auch dort schreiben müssen "und/oder". Also einmal und/oder - immer und/oder! Nun werden viele denken: "Sowas passiert mir nicht - ich schreibe ausschließlich "und/oder" - und selbst wenn - der Richter wird wissen, was gemeint ist."

Seid gewarnt: Die Prägung deutscher Juristen durch das BGB und das StGB ist so stark, daß kaum einer in der Lage ist, die richtige Verwendung von "und" und "oder" total zu vermeiden. Das Ergebnis: Von Elitejuristen wird im selben Text auf der Tatbestandsseite mal "und/oder", mal "oder" mit derselben vermutlich gewünschten Bedeutung benutzt, und auf der Rechtsfolgeseite mal "und/oder", mal "und". Es findet sich im Münchener Vertragshandbuch ein Vertragsmuster, verfaßt von keinem Geringen, in dem genau das passiert ist. Und wer werden die ersten sein, die aus solchen feinen Unterschieden Honig saugen? Rechtsanwälte natürlich. Der erste Haftungsfall wegen "und/oder" ist nur eine Frage der Zeit.

Um das zu verhindern, und um die Berufshaftpflicht-Prämien niedrig zu halten, die folgenden Verse, die man nur einmal verstehen muß, um in Fragen von Und und Oder nie fehlzugehen. Reim und Versmaß schließen Verwechslungen aus.

Merkverse

Gönnst du dem Gläubiger nur Moder
Dann setz erst "und" und dann das "oder".
Erst A und B und C muß ihn quälen
Dann D oder E oder F kann er wählen.

Jagst du den Schuldner, diesen Hund
Dann setz erst "oder" und dann "und"
Hat A oder B oder C er begangen
Kannst D und E und F du verlangen.

Besonders die letzten Verse sollten alle Wettbewerbsrechtler dreimal täglich wiederholen, solange, bis sich in den Spalten der WRP kein einziges "und/oder" mehr findet. Die Gerichtssprache ist deutsch! (§ 184 GVG).

Praktische Hinweise

Der Abschied von "und/oder" wird mancher und manchem schwer fallen. Drei schnelle Gedanken empfehlen sich vor jeder beansichtigten Benutzung der Unsinns-Kombination, solange sie noch nicht von selbst unterbleibt.

Überlegung Vorher Nachher
Einfach "oder"! Möchtest Du Kaffee mit Zucker und/oder mit Milch? Möchtest Du Kaffee mit Zucker oder Milch?
Anhängen: "oder beides / oder mehrere davon"! Um deine Sachen zu transportieren, kann ich dir das Auto und/oder den Dachgepäckträger leihen. ...kann ich dir das Auto, den Dachgepäckträger oder beides leihen.
Was hätte Goethe gesagt, oder sonst jemand, der deutsch kann? Wir könnten ins Kino und/oder in die Kneipe gehen. Wir könnten ausgehen.

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